Michael Ende



geb. 12. Nov. 1929 in Garmisch-Partenkirchen
gest. 28. Aug. 1995 in Filderstadt-Bonlanden

aus der Biographie
44 Fragen an den geneigten Leser
Spiegel-Artikel
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Aus der Biographie

44 Fragen an den geneigten Leser

... aus "Michael Endes Zettelkasten"

Wenn Sie ein Buch wie dieses hier zusammenstellen sollten, nach welchen Kriterien würden Sie Ihre Auswahl treffen?

Gibt es Bücher oder Stellen aus Büchern, die Ihr Leben verändert haben?

Halten Sie es für Zufall, wenn Sie, von Lebensfragen bedrängt, genau im richtigen Augenblick genau das richtige Buch in die Hand bekommen, es an genau der richtigen Stelle aufschlagen und genau die richtige Antwort finden?

Gehört die Bibel, die von Engeln, Dämonen und Wundern berichtet, zur phant. Literatur?

Gibt es eine Stadt namens Moskau, so wie Tolstoi sie beschreibt, eine Stadt namens Berlin, von der Fontane erzählt, eine Stadt namens Paris, wie Maupassant sie schildert, wirklich oder hat es sie jemals gegeben?

Ist der Mond, den Goethe dutzte, und der Klumpen aus Schlacke und Staub, auf dem die beiden Astronauten herumtaumelten, ein und derselbe Himmelskörper?

Kann die Schilderung von Kriegsgreueln einen Menschen belehren oder gar verändern, der diese Kriegsgreuel unbelehrt und unverändert erlebt hat?

Ist das Leiden von 1000 Menschen mehr Leid als das eines einzelnen?

Ist eine Fläche von einem Quadratkilometer röter als eine gleichfarbige Fläche von einem Quadratmeter?

Um sich eine Welt "an sich", außerhalb der menschlichen Vorstellungen von der Welt vorzustellen - bedarf es dazu nicht wenigstens eines Menschen, nämlich dessen, der sich diese Welt vorstellt?

Wenn unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit sich ändern, ändert sich dann auch die Wirklichkeit?

Können Sie etwas denken, wofür es kein Wort gibt?

Wie kann ein Kind, das noch nicht sprechen und damit angeblich noch nicht denken kann, verstehen,dass Wörter Bedeutungen haben?

Können Sie erklären, was die Wörter "schon" und "eben" bedeuten?

Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass Sie ein Gedicht "verstanden" haben?

Halten Sie es für möglich, dass die Menschen in 100 oder 200 Jahren über unsere Vorstellungen von der Welt den Kopf schütteln werden?

Was treibt wohl einen Nihilisten dazu, andere Menschen von seiner Ansicht, dass alles sinnlos sei, überzeugen zu wollen?

Erwartet man zu Recht von einem Maler, der ein gutes Christusbild malt, dass er selbst eine Art Christus ist?

Was rechtfertigt die Darstellung eines entsetzlichen Foltertodes durch ein schönes Bild, durch schöne Musik oder in schönen Versen?

Ist Schönheit eine objektive Tatsache oder ein subjektives Erlebnis, oder ist die Frage so überhaupt falsch gestellt?

Wenn man die Hände zusammenschlägt, welchen Ton macht dann eine Hand?

Liegt die Kraft, die eine Kompaßnadel dazu veranlaßt nach Norden zu zeigen, in der Nadel oder im Erdball?

Wenn mehrere Menschen das gleiche Buch lesen, lesen sie dann wirklich dasselbe?

Wo geschieht das, was zwischen einem Buch und seinem Leser vorgeht?

Kann man ohne Geist den Geist leugnen?

Warum schreiben Leute dicke Romane darüber, dass es nicht mehr möglich sei, Romane zu schreiben?

Wer denkt sich wohl die Geschichten derjenigen Autoren aus, die behaupteen, keine "allwissenden Erzähler" zu sein?

Was ist der Unterschied zwischen einer dichterischen Fiktion und einer Lüge?

Wenn Kunst im Weglassen besteht, ist es dann nicht die größte Kunst, gar nichts zu machen?

Sind eigentlich Leser verpflichtet, einen Dichter zu verstehen, oder ist ein Dichter verpflichtet, sich seinen Lesern verständlich zu machen?

Wenn ich das Wort "Baum" in Morseschrift, in gotischen Lettern, in Blinden- schrift und im chin. Ideogramm vor mir sehe, aber dieser Schriften unkundig bin, muß ich da nicht annehmen, es handle sich um ganz verschiedene Dinge?

Wenn Kafka uns mit seinen Romanen das sagen wollte, was seine Interpreten interpretieren, warum hat er's dann nicht gesagt?

Was tun Personen in einem Buch, wenn es gerade niemand liest?

Ist der Wunsch nach Schönheit der Wunsch nach Beschönigung?

Haben Sie jemals einen Durchschnittsmenschen kennengelernt?

Ist es nicht höchst verwunderlich, daß die gesamte deutsche, englische, franz., span. und italien. Literatur nur aus 26 Buchstaben besteht?

Halten Sie es für möglich, dass Gott, wie die Kabbala lehrt, die Welt aus 22 Buchstaben und 10 Zahlen schuf?

Könnte es den Tanz, der die Schwerkraft überwindet, ohne die Schwerkraft geben?

Welcher elektrochem.Prozeß in unserem Hirn hat wohl den Gedanken hervorgebracht, dass Gedanken nichts anderes seien als elektrochem. Prozesse in unserem Hirn?

Wenn Wirklichkeit etwas mit "wirken" zu tun hat, welche Wirklichkeit hat dann ein Traum?

Gibt es Bücher, die einen krank oder gesund machen?

Haben Sie auch beobachtet, dass jedem Menschen im Lauf seines Lebensvon einer Fee 3 Wünsche erfüllt werden?

Was ist Ihrer Ansicht nach schwerer zu machen - das Schwere oder das Leichte?

Werden Sie nachzählen, ob es auch wirklich 44 Fragen waren, oder glauben Sie mir aufs Wort?"

Eingetippst und geschickt von Lion (Danke schön ;-).

Spiegel-Artikel

Der Spiegel (DEU), 02.04.1984, Heft 14, S. 287-291

Michael Endes Bilder und Mythen

Mondenkind Lucifer

Michael Endes Bilder und Mythen *

Auf seiner Wander- und Wunderfahrt durchs Land "Phantasien" gerät der Knabe Bastian an ein "Bergwerk der Bilder". Aus tiefen Stollen fördert da der blinde, uralte Bergmann Yor, nur im Dunkel kann er sehen, "hauchdünne Tafeln", auf denen "Rätselhaftes" gemalt ist.

Es seien, erklärt der Alte vom Berge, "die vergessenen Träume aus der Menschenwelt"; ganz Phantasien, erzählt er, stehe "auf Grundfesten aus vergessenen Träumen" - und ähnlich steht es um "Die unendliche Geschichte" des Michael Ende.

Denn das Buch für Millionen - Kinder nicht allein - erscheint als alchimistische Legierung aus geschürften Menschheitsträumen und wiederbelebten Fossilien: aus Märchen und Mythen, Okkultem und Magischem, aus Bildern naher und ferner Religionen; ein sanftes Elixier des Irrationalen. Das trifft den Zeitgeist mitten ins Herz - die Fantasy-Fans und Psych-Okkulten, die Romantiker und die Esoteriker, und die Freunde einer grünen, heilen Welt. Dennoch ist "Die unendliche Geschichte" mehr als ein Kultbuch.

"Unsere Seelenlandschaft ist verwüstet", sagt Michael Ende, "es wird etwas Neues kommen müssen." Es erscheint ihm nötig, "daß das Akausale, das Nichtlogische wieder eingesetzt wird und seine Berechtigung zurückerhält; sonst wird's tödlich".

Endes Vater, Edgar Ende, war ein surrealistischer Maler. Der hatte die Gabe, hingestreckt in einem dunklen Raum, Bilderfolgen vors innere Auge zu rufen; mit einem Bleistift, an dem ein kleines Lämpchen steckte, skizzierte er die Visionen.

In sein eigenes Bergwerk der Bilder und Mythen stieg Michael Ende nicht so direkt. Sein Alter vom Berge hieß Rudolf Steiner, der Anthroposoph; Ende war Waldorf-Schüler. Vor allem über Steiners frühe, okkulte Schriften stieß er auf die jüdische Mystik, die Kabbala (hebräisch für: Überlieferung).

Einmal im Bereich der "übersinnlichen Welterkenntnis" (Steiner), studierte er die einschlägigen Logenmeister, die schillernde Madame Blavatzky, den schwefligen Aleister Crowley, versenkte sich in die Weisheit des Zen-Buddhismus, und gelegentlich legt er sich schon mal Tarot-Karten oder wirft ein I-Ging, das chinesische Orakel.

"Die unendliche Geschichte" ist mehr als ein Puzzle aus dem Bezirk des Esoterischen, mehr als Kulissenschieberei mit okkulten und phantastischen Versatzstücken; sie spiegelt Endes Weltbild, seine eigenen Bilder und Mythen.

So ist denn auch vieles tiefer gemeint, als es, märchenhaft, in der "Unendlichen Geschichte" steht; Lucifer (Lichtträger) und Satan spielen mit, Steinersche Kosmogonie und Paradoxien des Zen.

Steiner (eine seiner Zeitschriften hieß "Lucifer") hatte in einer Weltschöpfungslehre dargetan, dem Erden-Reich sei ein (besserer) Monden-Kosmos vorangegangen: Aus diesem Elysium holte sich Ende, als "Rückerinnerung", die Phantasien-Kaiserin "Mondenkind", den reinen Lucifer. Dieser Lucifer will den Phantasien-Reisenden Bastian "wegziehen von der Welt zu reiner Geistigkeit" (Ende), er sei das, "was Kunst ist". Gegenspieler Satan heißt im Buch "Xayide": die "mächtigste und schlimmste Magierin Phantasiens". Dieser Satan, sagt Ende, will den Bastian "an die Erde binden und zu einem falschen Gott machen".

Auch der Grenzübertritt des Erdenkloßes Bastian ins Lucifer-Land sei nicht nur eine poetische Flause, vielmehr eine "Zen-Einweihung", eine spirituelle Selbstfindung.

Getreu den "Zehn Ochsenbildern", eine allen Zen-Adepten wohlbekannte Allegorie, verläuft der Weg: Der Sucher setzt sich auf die Spur des Ochsen, Symbol des Buddha-Geistes, gewinnt ihn, wird eins mit ihm (der Ochse löst sich in Leere auf) - und äußerlich unverändert kehrt der Erleuchtete heim "auf den Markt".

Nun ist Michael Ende wieder ins Bilder-Bergwerk gestiegen; diesmal freilich fürchtet er, den Leser "zu verstören": "Der Spiegel im Spiegel" (Titel seines neuen Buches) sei nicht für Kinder gedacht, auch nehme er den Leser "nicht an die Hand", und "sehr viele Finsternisse" kündet er an.

"Der Spiegel im Spiegel" ist eine Geschichte in 30 Geschichten, illustriert mit einem guten Dutzend Lithographien und Radierungen von Endes Vater (er starb 1965). "Ein Labyrinth", untertitelt Michael Ende die Geschichten-Folge, labyrinthisch sind sie miteinander verwinkelt.

Verwüstete Seelenlandschaften, schreckliche Taten, apokalyptische Visionen drängen sich, von der Saugkraft surrealer Zeichnungen oder der nachtmahrischen Unabwendbarkeit Kafkas; klassische Mythen glimmen zuweilen durch, Minotaurus und das Labyrinth, Ikarus, aber auch Mythen des Alltags.

Die Arbeit des Bilder-Schürfens übernahm Michael Ende diesmal anders. Erfahrungen, "Außenbilder" verwandelte er "durch langes Hinsehen in Innenbilder"; und in eine Geschichte hat er sich selbst gezeichnet, "wie ein mittelalterlicher Maler am Rande seines Bildes":

In einer Jahrmarktsbude - sie liegt "unter einem schwarzen Himmel" in einem "unbewohnbaren Land" - findet ein Kind einen seltsamen Mann: Er steht auf der Bühne, hat einen "großen, sonderbarern Hut" auf und "zeigt mit der linken Hand nach oben und mit der rechten nach unten".

Er sei "der Pagad", erklärt er dem Kind, er sei "Magier" und "Gaukler" und habe "eine Menge Namen"; aber "am Anfang heiße ich Ende". Das Kind meint, es heiße "bloß Kind"; da nennt der "Ende" das Kind "Michael".

Doch was bedeutet der Mann mit dem sonderbaren Hut und der rituellen Gebärde, der sich "Pagad" nennt? In dieser Pose steht der "Magier/Gaukler", original "Pagad" geheißen, auf der ersten Karte des Tarot-Decks.

Gaukeln und Juxen ist dem Magier Ende nichts Fremdes, Märchen taugen auch zu Heiterkeit - einmal reimte er: "Hänsel und Knödel, / die gingen in den Wald. / Nach längerem Getrödel / rief Hänsel plötzlich: 'Halt' - Ihr alle kennt die Fabel, / des Schicksals dunklen Lauf:/ Der Hänsel nahm die Gabel und aß den Knödel auf."

Fußnote: Michael Ende: "Der Spiegel im Spiegel: ein Labyrinth". Edition Weitbrecht in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart. 336 Seiten; 32 Mark.

Eingetippst und geschickt von Matthias (Danke schön ;-).

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